jesus – ein monolog

 

wie soll ich dich anreden?

du bist ja seit fast 2000 jahren tot …

 

ich kenne dich nicht.

du kennst mich noch viel weniger.

 

jahrelang habe ich versucht

hinter die übermalungen deiner gestalt

zu kommen und dich zu entdecken:

es ist mir nicht gelungen.

 

wie also soll ich dich anreden?

du bist ein fremder für mich.

 

was ich sicher weiß:

du warst ein jude.

du bist nicht mein freund.

du bist nicht mein bruder.

 

du toter fremder jude.

 

ich kenne dich so wenig

wie ich meinen leiblichen bruder

gekannt habe: er ist gestorben

bevor ich geboren wurde.

 

ich habe erfahren:

du lebst!

doch erfahren und erlebt

habe ich das nicht selbst.

 

ich habe es erfahren

von eltern und pfarrern

religionslehrerinnen

und professoren.

 

dass du lebst

weiß ich nur

vom hörensagen:

andere behaupten das.

 

ich kann das nicht überprüfen.

 

was hast du mit mir zu tun?

was habe ich mit dir zu tun?

 

vor vielen jahren

hat ein kleriker

zu mir gesagt:

 

PRIESTER SEIN HEISST

BEDINGUNGSLOSER GEHORSAM:

DEN EIGENEN WILLEN HINGEBEN

VERZICHTEN UND SICH ZERREIBEN

LASSEN FÜR CHRISTUS!

 

was würdest du sagen?

 

ist das in deinem sinn?

was hast du damit zu tun?

 

wirst du bis heute benützt

für eine klerikale ideologie?

 

jesus

was ich sicher weiß:

du bist tot.

 

die leidensgeschichte

vor deinem tod

hat einen tag gedauert

oder ein wenig länger.

 

das war’s.

 

kein vergleich

mit anderen menschen

die jahre und jahrzehnte

lang leiden …

 

und vorher -

warst du glücklich?

war dir gehorsam wichtig?

und opfer und verzicht?

 

du bist tot.

du kannst nicht antworten.

du bist aus dem spiel.

du bist fein raus.

 

vermisse ich dich?

nein.

ich vermisse den

verstorbenen freund.

 

ersehne ich dich?

nein.

ich ersehne meine

geliebte in zeiten der trennung.

 

ich komme klar

ohne dich.

und doch -

 

warum spreche ich

zu dir?

 

 

Max-Josef Schuster